Das Bündnis „Bildung für eine demokratische Gesellschaft“ äußert sich zu aktuellen, gesellschaftlichen und politischen Ereignissen und Jubiläen. Den Mauerfall vor 30 Jahren möchten wir gesellschaftlich und persönlich betrachten. Aus Mitgliedsorganisationen haben vier Menschen einen Einblick in ihre Sicht auf den Mauerfall gegeben. Jede Geschichte betont andere Aspekte der Teilung, dabei spielen familiäre Beziehungen zwischen West und Ost eine wichtige Rolle. Es geht um die Auseinandersetzung mit einer Diktatur, die wider Erwarten friedlich gestürzt wurde. Das ist ein Anlass zum Feiern! Es geht auch um die Frage nach der Gestaltung einer Vereinigung zweier Staaten; Es gibt heute viele Anlässe zu kritischer Reflexion. Wir laden Sie ein, sich von den Geschichten zu einer eigenen Erinnerungsreise in die Zeit von 1989 anregen zu lassen. Was bedeutet der Mauerfall für ihre persönliche Sicht auf unser Gemeinwesen?

Die vier Geschichten erzählen aus individueller Perspektive von Freude und von Leid, von Realitäten im geteilten Deutschland. Der Mauerfall ist ein Wendepunkt, aber wohin wenden wir uns heute? In 30 Jahren Deutscher Einheit gibt es Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten. Es gibt Aufarbeitung und Verdrängung, Freundschaften über alle Grenzen hinweg, aber auch noch viele Klischees und Vorurteile. Wir leben in einem demokratischen Land, das noch wesentliche Fragen klären muss: Wie bauen wir die Kluft zwischen armen und reichen Menschen ab? Wie wollen wir Freiheit und Sicherheit abwägen? Wie kann jede Form von Bildung für alle Menschen unabhängig von der Herkunft zugänglich sein? Welchen Weg zu mehr Klimaschutz wollen wir gehen?

Über diese und andere Fragen wollen und müssen wir kontrovers debattieren. Dafür brauchen wir einen demokratischen Raum, in dem wir verschiedener Meinung sein dürfen, aber auch gemeinsame Werte teilen. Das Bündnis „Bildung für eine demokratische Gesellschaft“ bringt viele Menschen zusammen und stärkt sie in ihrem Engagement für unsere Gesellschaft. Begeisterung für die Demokratie kann Generationen verbinden, ob mit oder ohne Teilungserfahrung. Erzählen wir uns unsere Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart, sowie unsere Ideen und Wünsche für die gemeinsam zu gestaltende Zukunft. Nehmen wir den Tag des Mauerfalls vor 30 Jahren als Anlass zu einem Statement für das demokratische Miteinander.

30 Jahre Mauerfall – ein persönlicher Rückblick – Jörg Maywald, Jahrgang 1955

Sommer 1988, Hochzeitsgesellschaft östlich von Berlin: Wir waren uns sicher, dass die Staatssicherheit im Raum präsent ist. Aber wir wussten nicht, welche Mitglieder der engeren oder weiteren Familie möglicherweise Spitzeldienste leisteten. Rund ein Jahr vor der Wende heiratete meine damals 21-jährige in West-Berlin lebende Stieftochter einen jungen Mann aus Ostberlin. „Rüber machen“ lag in der Luft und erste Anzeichen von Unruhe in der Bevölkerung waren spürbar. Mittendrin unsere Familie, in Ost und West geteilt. Ein Beispiel für diese familiäre deutsche Teilung: Anlässlich des Mauerbaus 1961 hatte sich meine damalige Frau von heute auf morgen zwischen Familie (Ostberlin) und Schule (Westberlin) entscheiden müssen. Sie entschied sich für die Schule, wuchs die nächsten Jahre bei ihrem Großvater auf, der ihr Vormund wurde, und durfte ihre Eltern und Geschwister im „Osten“ mehr als zehn Jahre nicht sehen. Noch sehr präsent sind mir die zahlreichen Verwandtenbesuche in der Zeit des Passierscheinabkommens, die Schikanen an der Grenze, die unterschiedlichen Gerüche in Ost und West, der bleierne Mief der DDR-Gesellschaft.

Oktober 1989, kurz vor dem Mauerfall: Bleiben die Demonstrationen in Leipzig und Berlin friedlich? Greift das Militär wirklich nicht ein? Reicht die Perestroika bis an die innerdeutsche Grenze? Und dann – nach bangen Tagen und Nächten am Schwarz-Weiß-Fernseher – die unglaubliche Nachricht: Die Mauer ist offen. Tränen, Freudentaumel, nichts wie hin zur Grenze, um mit Hammer und Meißel an der Öffnung des Eisernen Vorhangs teilzuhaben. Wir mussten immer etwas vorsichtig sein, um nicht zu sehr ins Getümmel zu geraten, denn meine Töchter waren erst vier und eineinhalb Jahre alt. Der stärkste Eindruck: Es klingelt an der Tür, und fröhlich-johlend begrüßt uns mein Schwager aus Ost-Berlin, der sich mit dem Motorrad in den Westen aufgemacht hatte. Bis dahin unvorstellbar.

Die Zeit nach der Wende: Nur elf Tage nach dem Mauerfall wurde in New York von der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention einstimmig verabschiedet. Zusammen mit vielen anderen hatte ich die Hoffnung, dass eine neue demokratische Ära anbricht, die auch zu einer Verbesserung der Stellung des Kindes führt. So manche Hoffnung auf schnelle Änderung hat sich als Illusion erwiesen. Allein bis zur Einführung des Rechts jedes Kindes auf gewaltfreie Erziehung waren noch elf weitere Jahre nötig. Eine beglückende Erfahrung aber blieb, die untrennbar mit der Wendezeit verbunden ist: dass eine Diktatur gestürzt werden kann, wenn viele scheinbar Schwache sich für ein gemeinsames Ziel zusammenschließen.

Prof. Dr. Jörg Maywald

Sprecher, National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention e.V.

Grenzgänge – Gerd Placke, Jahrgang 1960

Als jemand, der im südwestlichen Niedersachsen aufgewachsen ist, waren die Verbindungen zur Berliner Mauer und zur DDR-Grenze nicht hautnah, sondern ein Thema des Geschichts- und Politikunterrichts – den einzigen Fächern, zu denen ich in der Schulzeit eine echte Neigung verspürte. Wie so viele bin ich dann während der Schulzeit durch Reisen nach Berlin (- in meinem Fall drei Fahrten! -) auf die Brutalität dieser Einrichtung gestoßen (worden) und auch auf die unterschiedlichen Demokratieverständnisse der Systeme.

Später bin ich auf faszinierende Weise wieder mit der Grenze konfrontiert worden. In Ost-Berlin hatte ich 1988 als Kriegsdienstverweigerer in verschwiegen organisierten Workshops prägende Begegnungen mit Totalverweigerern aus der DDR. Es stellte sich dabei recht schnell heraus, dass beide Seiten ähnlich mit diesen Resistenzen gegenüber der vermeintlichen „Verteidigungsbereitschaft“ umgingen. Als wenig rechtsstaatlich empfand ich die häufige Doppelbestrafung von Totalverweigerern in der Bundesrepublik aufgrund des Tatbestands „Fahnenflucht“: Sich wiederholendes unerlaubtes Entfernen vom Dienst während der Wehrpflicht-Zeit führte immer wieder zur Bestrafung. Dies gab es auch in der DDR. Erstaunlich war indes, dass es auf Seiten der DDR eine stille Übereinkunft gab, die Totalverweigerern so etwas wie Straffreiheit gewährte, weil der Staat kein Interesse an einer quantitativen oder qualitativen Eskalation in dieser Sache hatte. Seit 1985 wurde in der DDR kein Kriegsdienstverweigerer mehr eingesperrt.[1] Die nach unserem Verständnis undemokratische DDR ging auf diese Weise jahrelang bedächtiger – aber ebenso wenig rechtsstaatlich – mit Verweigerern um als die Bundesrepublik.

Aus diesen Begegnungen resultierte u.a. noch eine individuelle Reise mit dem eigenen Rad durch die DDR. Dies war nur durch einen Trick möglich, weil die DDR kein Interesse an solch individualistischen Touren hatte. Nach dem Fall der Mauer stellte sich heraus, dass sowohl die Kriegsdienstverweigerer-Zusammenkünfte als auch die mit interessanten Episoden gespickte Radreise von Anfang bis Ende von der Stasi begleitet worden waren.

Das Ende der Mauer schließlich war erneut biografisch prägnant: 1989 – während eines Forschungsaufenthaltes in Paris, gratulierten mir in dem Studentenwohnheim, in dem ich untergekommen war, vier Menschen aus unterschiedlichen Ländern unabhängig voneinander während des Abends am 9. November zum Fall der Mauer. Mir wurde schlagartig bewusst, dass wir Deutschen mit der weit verbreiteten Skepsis zur deutschen Vereinigung irgendwie alleinstanden und uns freuen durften. Die mit diesem Spannungsverhältnis verbundenen Demokratiedebatten scheinen mir bis heute nicht abgeschlossen zu sein.

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Kriegsdienstverweigerung_in_Deutschland#Deutsche_Demokratische_Republik

Dr. Gerd Placke

Senior Project Manager, Bertelsmann Stiftung

Eine scheinbar unveränderliche Realität – Michael Töpler, Jahrgang 1975

Die deutsche Teilung war in meiner Jugend eine Realität, die unveränderlich schien. Wir hatten Verwandte im Osten und es gab einen regen Austausch von Paketen. Als ich 14 Jahre alt war, fiel die Mauer. Am nächsten Tag bin ich mit meinem Vater nach Berlin gefahren. Am Grenzübergang mussten wir Geld umtauschen und alles lief reibungslos beim Weg in den Osten. Ich erinnere mich an leere Straßen und ein Essen im Restaurant auf dem Funkturm am Alexanderplatz. Für unsere Verwandten ergaben sich nun neue Möglichkeiten, einige zogen in den Westen, es wurde viel gereist. Den Prozess des langsamen Zusammenwachsens in den 1990er Jahren habe ich nicht intensiv verfolgt, Schule und Studium hatten Priorität.

Heute blicke ich kritisch auf die Art und Weise des Zusammenwachsens. Es gab politisch nachvollziehbare Gründe, die Einheit als eine Art „Beitritt“ der neuen Bundesländer zur BRD zu gestalten, aber dabei sind Chancen auf demokratische (Neu)Gestaltung vertan worden. In der Umbruchphase 1989/90 gab viele Ideen, wie man die Gesellschaft und das Land verändern könnte, so zum Beispiel im Bildungsbereich. Statt einer neuen gemeinsamen Lösung gab es eine Übertragung von West nach Ost. Das hat sicher manche Frustrationen erzeugt.

Ich würde mir wünschen, dass neben einer konsequenten Aufarbeitung der DDR und der BRD Zeit eine Bestandsaufnahme ohne Verklärungen erfolgt. Für eine gemeinsame demokratische Entwicklung müssen uns die aktuellen Gefahren bewusst sein, aber noch stärker die Chancen für Veränderungen hin zu einer immer gerechteren und inklusiven Gesellschaft.

Michael Töpler, MA

Fachreferent für das Thema „Eltern und Schule“, Grundschulverband e. V.

Schmerzhafte Teilung – Ansgar Klein, Jahrgang 1959

In der Nacht des Mauerfalls hätte ich eigentlich in Berlin sein wollen – hatte meine Fahrt aber dann abgesagt, da Abschlussarbeiten an einem großen Doppelband zum Heimatbegriff für die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung anstanden. So erreichte uns – ich wohnte damals nach meinem Studium zeitweise wegen Bonner Arbeitsverpflichtungen wieder im Elternhaus in Sankt Augustin – die Öffnung der Mauer über die Medien. In der Nacht hörte ich lautes Radio im Schlafzimmer meiner Mutter. Ich klopfte an und sie saß – die Nachrichten über die Maueröffnung klangen aus dem Radio – weinend in ihrem Bett. Ihr Mann, unser Vater war bereits 1981 gestorben und nichts hätte ihn mehr gefreut als diese Nachricht. Ich ahnte, was ihr durch den Kopf ging …:

Unser Vater Manfred Klein hatte beinahe 10 Jahre Zuchthaus als politischer Häftling in der DDR verbracht (Hohenschönhausen, Bautzen, Torgau) – wegen seines Widerstands gegen eine Zentralisierung der FDJ im beginnenden Kalten Krieg. Mein Vater gehörte zu den 7 Gründer*innen der FDJ: als Vertreter der katholischen Kirche und der CDU. Er wurde vor dem anstehenden FDJ-Verbandstag, für den er mit Freunden einen Antrag auf Gewaltverzicht in der FDJ vorbereitete, verhaftet und durch ein Militärtribunal als „Spion“ zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. In den DDR-Dokumenten zur FDJ wurden Unterschrift und Foto meines Vaters weg retouchiert.

Meine Mutter, die er beim Aufbau der Jungen Union im Berliner Prenzlauer Berg kennengelernt hatte, verlobte sich während der Haftzeit mit ihm. Als er 1957 gegen einen DDR-Spion ausgetauscht wurde, wog er 45 Kilo, konnte im Stehen schlafen und war ein ausgezeichneter Schachspieler. Nach schneller Hochzeit im Ostteil der Stadt folgte der Wechsel in den Westteil – die Mauer gab es damals ja noch nicht. In 7 Jahren waren wir 5 Jungen. Zunächst Landtagsabgeordneter und parl. Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion in West-Berlin, zogen unser Vater und die ganze Familie 1961 dann nach Bonn – Manfred Klein war einer der Mitbegründer der Bundeszentrale für politische Bildung.

Meine Mutter hatte nach dem Mauerbau ihre Schwester nicht mehr gesehen, die bei den Eltern im Ostteil der Stadt geblieben war. Zum Tod ihrer Mutter konnte sie nicht nach Ostberlin fahren – ihr Mann stand ja auf Listen der DDR. Mitten im Prager Frühling kam es dann zu einer ersten Begegnung, die mein Vater über seine politischen Kontakte mit dem Dubcek-Regierungsteam in der damaligen Tschechoslowakei arrangieren konnte. Aus Prag bekam meine Tante eine Einladung und dort kam es zum Wiedersehen. Als 9jähriger erinnere ich mich an das fröhliche „Ahoi“ allerorten und die ausgelassene Stimmung auf den Plätzen und Straßen von Prag – aber auch an die schwarz-weißen Fernsehbilder vom Einmarsch der Ostblock-Truppen in der Tschechoslowakei zwei Wochen nach unserer Prag-Reise. Jahrelang beherbergten meine Eltern Flüchtlinge aus Prag in unserem Haus. 1968 war für mich immer auch der Prager Frühling.

Als ich in den 1970er Jahren meine Tante in Ostberlin besuchen wollte, warnte mich mein Vater: Du fährst auf eigenes Risiko. Wirst Du festgenommen und ggf. ein Austausch mit mir verlangt, werde ich nicht kommen. Ich fuhr mit mulmigen Gefühlen nach Ostberlin. Die Mauer und die deutsche Teilung haben unsere Familie schmerzhaft geprägt. Der Mauerfall war ein Grund zur Freude – und zur Trauer angesichts der großen Schmerzen und Verluste, die die deutsche Teilung auch in unserer Familie bereitet hat.

PD Dr. Ansgar Klein

Geschäftsführer, Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE)

Autoren:

Prof. Dr. Jörg Maywald ist Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind, Honorarprofessor an der Fachhochschule Potsdam und Sprecher der National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention.

PD Dr. Ansgar Klein ist Geschäftsführer des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (BBE). Privatdozent für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und Publizist.

Dr. Gerd Placke ist von seiner Ausbildung her Historiker und Philosoph. Er arbeitet als Senior Project Manager in der Bertelsmann Stiftung. In dieser Funktion ist er im Projekt „jungbewegt – Für Engagement und Demokratie“ tätig.

Michael Töpler, MA, ist nach dem Studium der Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaft in verschiedenen Rollen als Elternvertreter in der Schule seiner Tochter, in der Kommune, im Land NRW und auf Bundesebene tätig gewesen. Aktuell ist er Fachreferent für das Thema „Eltern und Schule“ im Grundschulverband e. V. .